Geschichtswerkstatt

Blick auf den Hasenberg - Frau Sporer erinnert sich

Einleitung

Das Quartiersprojekt „Hasenberg Im Blick“ besteht nun schon seit fast einem Jahr. Seitdem hat sich eine ganze Reihe von Initiativen entwickelt. Dazu gehört auch eine kleine „Geschichtswerkstatt“. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht es darum, die Erfahrungen der Generation der „Kriegskinder“ in unserem Stadtteil lebendig werden zu lassen. Aus mehreren Gesprächen um die Jahreswende 2014/15 kristallisieren sich die Kindheits- und Jugend-Erlebnisse von Frau Liane Sporer rund um den Zweiten Weltkrieg heraus.

1. Erinnerungen an die Vorkriegszeit

Am 11.10.1931 bin ich in der Bismarckstraße 104 – heute Klugestraße 12 - geboren. Meine Eltern waren 1930 mit meiner älteren Schwester in den Neubau eingezogen. Sie gehörten der Wohnungsbau-Genossenschaft „Bau- und Heimstättenverein“ an. Als Handelsvertreter hat mein Vater recht gut verdient. Das einzige Auto weit und breit gehörte uns! Bevor ich 1938 in die Moltkeschule kam, besuchte ich einen Privatkindergarten.

Im Stadtteil Hasenberg verbrachten wir zunächst eine unbeschwerte Kindheit. Ungestört von fahrenden oder parkenden Autos spielten wir mit den zahlreichen Nachbarskindern meist „auf der Gass“, am liebsten Völkerball oder Brennball. Im Winter fuhren wir sehr gerne Schlitten. Wir konnten vom Westbahnhof über die Reinsburgstraße bis zum Leipziger Platz abfahren. Auch der Birkenkopf (damals natürlich noch ohne Schuttablage) war ein beliebter Treffpunkt.

2. Die Kriegsjahre

Während der ersten Kriegsjahre verlief der Alltag für uns wie immer. Da unserem Haushalt keine männlichen Familienmitglieder angehörten – meine Eltern lebten inzwischen getrennt -, waren wir von Einzugsbefehlen nicht unmittelbar betroffen. Vormittags besuchte ich die Moltkeschule und nachmittags traf ich mich mit Spielkameraden. Ein besonderer Höhepunkt im Jahresverlauf war der Geburtstag meiner Schwester, weil er in die Faschingszeit fiel. Jedes Jahr gaben wir bei uns Zuhause eine riesige Party. Unsere Gäste erschienen stets mit sehr fantasievollen Verkleidungen und wir hatten viel Spaß miteinander.

Die Wende kam für mich im Winter 1942/43. Der Befehl zur Evakuierung riss mich aus meiner gewohnten Umgebung heraus und ich fand mich in Neuler wieder, einem kleinen Nest in der Nähe von Ellwangen. Ich wurde bei einer Frau untergebracht, die eine Wohnung in einem Bauernhof gemietet hatte. Es gab dort eine Dorfschule: Alle Klassen wurden in einem Raum unterrichtet. Wir hatten häufig kalte Füße, weil wir unsere Winterstiefel zugunsten der „Winterhilfe“ hatten abgeben müssen. Meine Schwester musste sogar ihre Skier opfern, „für Stalingrad“, wie es hieß. Dass wir in der Landwirtschaft mithalfen, war selbstverständlich. Man durfte nicht zimperlich sein: Wir aßen z.B. aus einer Schüssel und die sanitären Verhältnisse waren für ein Stadtkind ziemlich gewöhnungsbedürftig.

Meine Mutter und meine Schwester blieben dagegen in Stuttgart. Meine Mutter musste den Lebensunterhalt für die Familie verdienen. Sie war damals auf der Reichsbank beschäftigt. Meine Schwester besuchte die Realschule. Danach absolvierte sie bei Kiedaisch eine Ausbildung zur Sportlehrerin. Um bei einem Besuch in Stuttgart etwas mitbringen zu können, tauschte ich meine geliebte Puppe gegen ganze sechs Eier ein!

Bei einem schweren Luftangriff im Sommer 1944 wurde unsere Wohnung durch Brandbomben stark beschädigt. Trotz des mutigen Einsatzes meiner Schwester (sie hat die Bomben aus der Wohnung entfernt!) war sie nicht mehr bewohnbar. Uns wurde eine Wohnung in der Reinsburgstraße 205 zugewiesen, deren Bewohner den Bomben zum Opfer gefallen waren.

Zu diesem Zeitpunkt kehrte ich nach Stuttgart zurück. Die „Christbäume“, die uns zuweilen beim Schlittenfahren überraschten, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wir mussten dann schleunigst den Bunker aufsuchen!

3. Kriegsende und Nachkriegszeit

1945 mussten wir auf Geheiß der amerikanischen Besatzungsmacht unsere Wohnung in der Reinsburgstraße zugunsten von jüdischen Familien räumen. Jetzt wurde uns in Heslach in der Nähe des Südheimer Platzes eine Wohnung  zugewiesen. Dort wiederum hatten uns ehemalige Nationalsozialisten Platz machen müssen!

1946 war ein einschneidendes Jahr für mich. Meine Schulzeit ging zu Ende und ich wurde konfirmiert. Ich bekam ein Paar gebrauchte Handschuhe und eine Umhängetasche geschenkt, auf die ich sehr stolz war. Ich erinnere mich an einen Kochkurs in der Jakobsschule, wo uns beigebracht wurde, wie man aus dem Nichts etwas Essbares  zaubert. Das war recht nützlich, denn für den Haushalt war in erster Linie ich zuständig. Die Lebensmittel besorgte ich vornehmlich in sogenannten „Schwarzläden“. Kaffee, Zucker und andere „Luxusartikel“ waren nur dort zu bekommen. Diese Läden waren stadtbekannt und die Leute sprachen deshalb vom „Wilden Westen“.

Weil ich Kindergärtnerin werden wollte, verbrachte ich nach dem Schulabschluss ein paar Monate im Internat des Froebel-Seminars in Öhringen. Mit etwa 15 anderen jungen Mädchen teilte ich einen Schlafsaal. Wir hatten wenig im Bauch (zum Frühstück gab es eine schwarze Brezel, zum Mittagessen eine dünne Suppe), aber umso mehr Flausen im Kopf! Um an ein bisschen Geld zu kommen, sammelten wir in unserer „Freizeit“ Bucheckern. 1947 war ich als Haustochter bei einem Unternehmer beschäftigt. Parallel dazu besuchte ich die Hauswirtschaftliche Berufsschule in Stuttgart.

1948 kehrte meine Familie in den Westen zurück, diesmal in die Bismarckstraße 140. Ich selbst ging für drei Jahre ins Ausland. Als Haustochter bei Familien in Zürich und Lausanne sammelte ich in punkto Haushalt und Erziehung wichtige Erfahrungen. Zu einem der Kinder, die ich damals betreute, habe ich heute noch Kontakt.

Nach meiner Rückkehr war ich ein halbes Jahr lang bei den American Headquarters  in der Verwaltung tätig. Dort lernte ich meinen späteren  Ehemann kennen. Wir heirateten 1955 und wohnten mit unseren drei Kindern in der Reinsburgstraße 199. Dem „Wilden Westen“ blieb ich also treu und 1975 zog ich wieder in der Bismarckstraße 140 - heute Klugestraße 50 – ein.

 

Frau Sporers Erinnerungen

 

Text: Liane Sporer und Mechthild Herdeg, im Januar 2015

Fotos:“Faschingsfeier“ aus  Privatarchiv /“Schutt-gart“ aus dem Stadtarchiv, veröffentlicht in den Stuttgarter Nachrichten am 22.4.1995

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